Mit meinem Smartphone in Verbindung bleiben

Liebes Smartphone,

Es ist ungefähr einen Monat her, seit wir uns getrennt haben; seit einer Woche bin ich beim Punkt MP 01. Ich habe es Kollegen und Studenten vorgestellt und ihre Reaktionen waren enttäuschend. Ja, es gab ein wenig Lachen und Kichern, und es gab ein paar Studenten, die das MP 01 mit einer Hand wogen, während sie es mit dem Gewicht ihres Samsung oder iPhone verglichen. Die Reaktionen waren durchweg schwach.

Nur wenige meiner Studenten konnten sich das Problem eingestehen. Einer hielt „süchtig“ für ein zu starkes Wort. Ich schlug das Wort „abgelenkt“ vor und er fand, dass dies eine viel bessere Beschreibung des Problems wäre. Einige sagten, dass sie sich über eine Tendenz zur Abhängigkeit bei ihren Partnern ärgern würden und eine Studentin sagte, dass ihr Freund sie beschuldigt hätte, süchtig zu sein.

Dies zu leugnen ist immerhin verblüffend. Denken Sie daran: Ich verbringe Stunden am Tag damit, zu unterrichten. Meine Studenten, die sich für Meister der Ausflüchte halten, verbringen Stunden am Tag mit ihren Handys. Sie sind nicht in der Lage, sie in ihren Taschen zu lassen. Ihre Telefone sind stärker als sie. Gelegentlich sehe ich, wie Studenten Facebook auf ihrem Computer und gleichzeitig auf ihrem Handy benutzen. Sie schauen nach unten, um eine Benachrichtigung zu checken (oder in der Hoffnung, eine Benachrichtigung zu sehen), und sie fallen in ein dunkles Loch. Sie passen zu den Beschreibungen von „süchtig“ und „abgelenkt“.

Ich habe ein wenig über meinen ersten Monat ohne Dich gebloggt1. Nach Erhalt meines Punkt-Mobiltelefons für diese Challenge, berichtete ich über mein Gefühl, dass dies eine gänzlich andere Beziehung werden würde. Ich hatte Recht mit dieser Annahme.

Dieses Telefon, dieses Objekt, dieses Medium der Kommunikation, hat bereits eine emotionale Wirkung auf mein Leben. Du siehst, ich möchte dieses Ding benutzen. Ich möchte Menschen Nachrichten senden und anrufen und mich mit ihnen unterhalten, aber ich habe anscheinend vergessen, wie das geht. Es fühlt sich komisch an, mein Telefon hervorzuholen und eine SMS mit dem Text „Wie geht es dir?“ an einen Freund zu senden. Ich erlebte sogar eine plötzliche, schreckliche Gefühlsaufwallung, als ich dachte: „Was, wenn ich keine Freunde habe?“

Das ist natürlich nicht so, aber in den kommenden Wochen wird es mich beschäftigen.

Mit freundlichen Grüßen,

Bobby

Hey Smartphone,

Ich bin jetzt seit zwei Wochen mit dem Punkt MP 01 zusammen. Wir verstehen uns sehr gut. Du hast meinen letzten Brief nicht beantwortet. Ich hoffe, Du nimmst mir nichts übel.

Erinnerst Du nicht noch daran, wie gerne ich Science Fiction lese? Das Punkt MP 01 hat mich diese Woche zum nachdenklich gemacht.

Ich dachte darüber nach, wie Huxley sich eine Welt vorstellte, in der Unternehmen herrschten, jede Erfindung komplizierter und teurer sein musste und unser Glück kontrolliert und überwacht wurde (Brave New World). Vernor Vinge sah Cyberspace voraus und stellte sich soziale Netzwerke und Identitätsdiebstahl (True Names) vor. Snow Crash von Neal Stephenson, wahrscheinlich bis heute mein Lieblingsbuch, führt die zuvor erwähnten Ideen weiter (ich kann nicht mehr über dieses Buch sagen, ohne ins Schwärmen zu geraten, also werde ich damit aufhören). Aber was mich in der letzten Woche am meisten berührt hat, war ein Dialog in Daniel Suarez’ Daemon:

... Khan hob seine andere Hand, um die Sonne abzuschirmen: „Wie fühlt es sich an? Hundert Grad hier draußen?“

McCruder sah auf seine Uhr. „Einhundert und sechs.“

„Hast du ein Thermometer in Deiner Uhr?“

„Ja. Na und?“

Khan sah Voelker durch das Autofenster auf der anderen Seite an. „Kurt. Rob hat ein Thermometer in seiner Uhr.“

„Und?“

„Nun, in einer gewissen Situation ist das, was Du in die Uhr einbaust, wichtiger als die Uhr. Ich würde sagen, er trägt ein Thermometer mit einer integrierten Uhr.“

Ich würde sagen, dass wir mit Datensammel-Ablenkungs-Maschinen in unseren Taschen herumlaufen. Wie konnte es passieren, dass wir uns Sorgen um unsere Kinder machten, die mit dem Game Boy spielten, um ihnen dann im Namen von Sicherheit und Status quo 1000-Euro-Supercomputer im Taschenformat mit endlosen Ablenkungen und Inhalten zu geben? Wie wurde der App Store zum wichtigsten Detail eines Gerätes, dass der Kommunikation dienen sollte? Wann haben wir angefangen, Unternehmen entscheiden zu lassen, was uns glücklich macht? Und wie haben wir es geschafft, dass „unendliches Scrollen“ das Treffen von Freunden in der Freizeit ersetzt hat?

Ich weiß, Smartphone, dass Du diese Fragen nicht beantworten kannst.

Ich hoffe, es macht Dir nichts aus, aber ich muss Dir vom Punkt Mobiltelefon erzählen. Es macht, wofür es entworfen wurde. Es dient nur einem Zweck. Eines meiner Probleme mit Feature-Telefonen war immer, dass sie Funktionen anbieten, die entweder nutzlos sind oder nicht funktionieren wie angepriesen. Keines der Features des MP 01 ist nutzlos. Sie alle arbeiten und sind nützlich.

Zuerst wurde ich von der Tatsache überrascht, dass ich nicht mehrere Alarme einstellen konnte. Dann entdeckte ich, wie einfach es ist, einen einzelnen Alarm zu setzen, ohne sich durch Menüs zu quälen. Es ist auch sehr leicht, die Sprachen der Texterkennung zu wechseln, was sehr gut ist, da ich regelmäßig in zwei verschiedenen Sprachen kommuniziere. Ich habe das Telefon noch nicht einmal Mal aufgeladen, seit ich es aus der Schachtel genommen habe. Ich spiele nicht ständig damit herum und habe es an einem Tag fast zu Hause vergessen. Und überraschenderweise gelang es mir, an einem Freitagabend eine „Intensivlese-Sitzung“ durchzuführen: fast sechs Stunden Lesen ohne Unterbrechung (All Our Wrong Todays von Elan Mastai, deutsch: Die beste meiner Welten).

Wir reden später,

Bobby

Hallo?

Drei Wochen, keine Antwort. Willst Du mich ausblenden? Ist mir egal. Du kennst mich so gut, dass ich mich nicht davon abhalten lasse, meine Meinung mit Dir zu teilen. Anfang der Woche las ich einen Blogbeitrag zu „Confirmation Bias“ von Nir Eyal2 und habe mich sofort gefragt, ob meine Sicht der Mobiltelefone von Voreingenommenheit geprägt sei. War ich aktiv auf der Suche nach dem Schlechten, nur um meine Sicht zu bestätigen? Wahrscheinlich. Habe ich jemals aktiv versucht, positive Argumente für die Nutzung eines Mobiltelefons zu finden? Nicht wirklich. Erster Halt: Wikipedia.

Der Wikipedia-Eintrag für „Mobile phone“ enthält einen Abschnitt über „Use“3mit überwiegend negativen Beispiele. Es gibt einen separaten Eintrag zum Thema „Mobile phone use in schools“, den ich für interessant halte, weil ich Dozent bin. Er bringt zumeist negative Beispiele und kann wie folgt zusammengefasst werden: Schüler ohne Zugang zu Telefonen haben bessere Noten. (Links zu zwei aktuellen Studien unten4,5 ).

Wikipedia bestätigt nur meine Überzeugung, dass Mobiltelefone einen negativen Einfluss haben und das nicht nur in der Schule. Im Gegensatz zu all diesen negativen Einträgen bietet die Auswahl von Blogs und nichtwissenschaftlichen Artikeln des World Wide Web einige positive Argumente für die Verteidigung von Mobiltelefonen:

  • Bessere Kommunikation (offensichtlich);
  • Hilfreich in Notfällen (da kann nicht gegenan argumentieren);
  • Hilft Unternehmen dabei, durch Mobile Commerce zu wachsen (gut für das Unternehmen);
  • Hilft bei der Terminplanung.

Einige dieser Thesen gehen bis auf das Jahr 2012 zurück, stammen jedoch aus einem Artikel, der vom Pew Research Center6 veröffentlicht wurde, das zumindest eine gemeinnützige Organisation ist.

Trotz all der schrecklichen Dinge, die in unserer Welt passiert sind und geschehen, genießen wir derzeit einen sehr guten Lebensstandard (zumindest in der westlichen Welt). Verbesserungen der Kommunikationstechnologie sind ein Teil davon. Wenn wir es wollen, können wir mit Familie und Freunden auf der ganzen Welt kommunizieren (mein Handytarif erlaubt es mir zum Beispiel Kanada von Frankreich aus kostenlos anzurufen). Wir können in großen und kleinen Notfällen in Kontakt bleiben. Wir können uns aus schwierigen Situationen befreien, indem wir verschiedene Apps wie z.B. Google Maps verwenden, und wir können es andere Menschen wissen lassen, dass wir nach großen Katastrophen in Sicherheit sind oder dass wir zu spät zu einem Termin kommen. Das alles sind positive Dinge und keines davon benötigt ein Smartphone (außer natürlich, wenn Sie Karten nutzen wollen).

Die Leute lieben Apps – das muss ich Dir nicht sagen, oder? Ein zwei Jahre alter Thread von AskReddit fragt: „Welche mobile App hat tatsächlich legitime positive Auswirkungen auf Dein Leben gehabt?“7und erwähnt einige positive Anwendungen für unsere Smartphones, wie z.B. Tracker-Apps und andere, die uns helfen, gute Gewohnheiten zu entwickeln, Apps für öffentlichen Transport und Apps für Schlaf und Sport. Aber diese Liste kommt mit einem Vorbehalt: die Social-Media-Apps. Sie machen süchtig. Sie kommen mit all den Merkmalen der oft zitierten giftigen Apps wie Facebook und Snapchat: Benachrichtigungen, Zugriff auf GPS-und Datensammel-Funktionen, Aufforderungen, über soziale Netzwerke zu teilen, und so weiter. Auch die Verwendung von Karten-Apps kann laut eines Artikels in Nature Communications negative Auswirkungen haben8.

Aber hier bestätige ich lieber ein Vorurteil, anstatt mich zu fragen, welche negativen Auswirkungen es hat, kein Smartphone zu besitzen. Ich kann folgende negativen Nebenwirkungen bei der Verwendung eines Punkt MP01 feststellen:

  • Es erinnert mich an Geld, das ich in der Vergangenheit für Telefone und Apps ausgegeben habe: Ich fühle eine Art Schuldgefühl, weil ich in fast allen Fällen kein neues Telefon brauchte, sondern es nur wollte.
  • Es gibt ein schwaches Jucken, bei dem Kratzen nicht hilft: nichts Ernstes, aber ich möchte wirklich mal Dinge checken oder nachsehen, wann die neuen Folgen meiner Lieblingsshows kommen.
  • Ich verbringe mehr Zeit auf meinem Computer.
  • Ich bin kritischer gegenüber denjenigen, die Smartphones benutzen.

Beste Grüße,

Bobby

Hey,

Nach vier Wochen ist es an der Zeit, zwei Dinge klarzustellen.

Zuallererst, ich liebe dieses Telefon wirklich: das Design, das Erlebnis, die Sounds, alles. Zweitens bin ich ein schlechter Kandidat für diese Challenge, weil ich denke, dass ich irgendwie sehr gut in diese Nische oder diesen Markt passe.

Ich bin ein Geek. Ich bin ein Digital Resident. Ich bin ein Early-Adopter (wenn der Preis stimmt). In den 90er Jahren aufgewachsen, zu einer papierlosen Universität gegangen, und zu Hause Nutzer von Dial-up-Internet. All das hat mich auf die Zeit ohne Smartphone vorbereitet, weil ich mich daran gewöhnt habe, mich anzupassen. Außerdem bin ich einer von denen, die Facebook bereits hatten, bevor es zu einer großen öffentlichen Sache wurde (2004/2005). Ich habe also beobachten können, wie es zu etwas Neuem reifte und, ehrlich gesagt, weniger interessant wurde. Ich bin seit über 10 Jahren auch Linux-Nutzer: Wenn ich all meine Arbeit ohne MS Office, Skype usw. machen kann, dann kann ich auch auf ein Dumbphone umsteigen, oder? Schließlich gebe ich Unterricht in Technologie und wie sie uns beeinflusst, und ich bin mir vollkommen im Klaren darüber, dass ich immer noch süchtig sein werde, egal, wie lange ich ohne Smartphone sein werde.

Ich bin eine schlechte Wahl für diese Challenge, weil ich ohne Probleme vom Smartphone auf ein Dumbphone wechseln kann. Kein Problem bedeutet aber nicht „ohne Veränderung“. Das Positive überwiegt sicherlich das Negative, das ich letzte Woche in meinem Brief erwähnt habe:

  • Weniger Amazon (ich habe das gerade neulich erst bemerkt).
  • Weniger Googeln (gut, in meinem Fall weniger DuckDuckGo) während der Filme.
  • Weniger suchen nach Gesundheitsproblemen.
  • Weniger Zeit in der Position „Kopf vorne“.
  • Kein Telefon im Badezimmer.
  • Kein Telefon im Schlafzimmer (ich muss noch einen schönen Wecker finden ... Vielleicht Amazon?).
  • Kein Telefon in der Küche (ja, ich bin der Typ, der Nudeln verbrennt).
  • Kein Telefon in meinen Händen, während ich meinen Sohn halte.
  • Weniger Sorgen darüber, dass der Akku leer wird, mein Telefon verloren geht, mein Telefon gestohlen oder kaputt ist.

 

Trotz all des Guten hatte ich in diesen Wochen nicht viele soziale Erfahrungen. Ich bin nicht gereist oder habe meine Stadt verlassen. Ich ging zur Arbeit. Das war alles. Ich kam nicht in eine Situation, in der ich mir sagte: „Verdammt, ich wünschte, ich hätte Dich.“ Ich blieb in meiner Blase.

Unsere „Blase“, weil es auch Deine ist, selbst wenn wir getrennt sind: die Stadt Rouen. Es gibt eine Kathedrale und Kirchen und Kopfsteinpflasterstraßen. Es gibt Dinge zu sehen und Dinge zu tun. Meine Familie und ich gingen zu einer Kunstausstellung und durch die gleichen Straßen, durch die wir viele (viele) Male gegangen sind. Wir haben festgestellt, dass es neue Geschäfte gibt. Einige Geschäfte und Cafés haben sich erweitert. Nach 12 Jahren in dieser Stadt würde ich sagen, dass ich sie „wie die Rückseite meiner Hand“ kenne, aber das ist nicht wahr, denn mehr als die Hälfte dieser Jahre war der „Rücken meiner Hand“ von mir abgewandt, während ich Dich gestreichelt und verhätschelt habe.

Viele Kanadier erinnern sich an Heritage Minutes9. Du erinnerst dich nicht an sie, Du bist zu jung. Einer der verwirrendsten Beiträge war über Marshall McLuhan und sein berühmtes Zitat „Das Medium ist die Botschaft.“ Hatte ich verstanden, was das bedeutet? Nee. Nicht ein Bisschen. Nicht, bis ich den Wikipedia-Eintrag über McLuhan gelesen hatte. Selbst dann verstand ich die Bedeutung nicht gänzlich. Während vier Jahren auf der Universität habe ich nicht ferngesehen. Als ich nach Frankreich gezogen bin, hatte ich keinen Fernseher. Dann habe ich einen im Müll gefunden. Sobald ich diesen Fernseher in meiner Wohnung hatte, änderte sich mein Lifestyle und ich fand es heraus.

Eine Parallele dazu ist mein Kühlschrank. Du erinnerst Dich wahrscheinlich an den Kühlschrank, wir haben Fotos von ihm gemacht, als er ankam. Ich finde meinen Kühlschrank besonders cool (kein Wortspiel beabsichtigt). Als wir diesen Kühlschrank kauften, änderten wir die Art, wie wir aßen und wie wir kochten. Wir haben angefangen, verschiedene Produkte zu kaufen, weil ein gut aussehendes Gerät mit gut aussehendem Essen gefüllt sein sollte, oder?

Das MP01 ist ein gutaussehendes Telefon und es erweckt in mir den Wunsch, mit ihm schöne, sinnvolle Nachrichten zu senden. Darum geht es, wenn man schöne Dinge haben will, nicht wahr? Warum etwas besitzen, das keine Bedeutung hat oder keinen Spaß beim Gebrauch macht? Das klingt hart, aber ich spreche nicht von Dir, und mein neues Telefon ist nicht ohne Mängel: Ich könnte über das Fehlen von 3G oder 4G meckern. Ich habe 2G-Empfang, wo ich lebe, aber Zukunftssicherheit ist die Art von Idee, hinter die ich mich stellen kann.

Egal. Ich hoffe, Du hast diese Briefe gelesen. Vielleicht wirst Du eines Tages zu mir zurückkommen. Ich sage nicht „Auf Wiedersehen für immer“, sondern nur „Adieu.“ Ich werde damit zufrieden sein, Dich in Deiner „Schönen neuen Welt“, in der ich so lange gewohnt habe, zu besuchen…

Bis wir uns wiedersehen,

Bobby

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