Ich bin so abhängig davon...

Tag 1

Auf meinem Küchentisch liegen zwei Telefone: mein Huawei P9 und ein brandneues MP01 der Schweizer Firma Punkt. Es ist ausgesprochen elegant gestaltet, in erdigem Braun, und wurde mir überlassen, damit ich darüber berichten kann, wie es sich anfühlt, vier Wochen lang in eine Zeit zurückversetzt zu sein, in der man mit Handys nur telefonieren und SMS schreiben konnte. Mehr beherrscht das MP01 nämlich nicht.

Ich muss dazu sagen, dass ich einer dieser Menschen bin, von denen man derzeit oft liest, dass sie pro Tag 100 Mal ihr Smartphone aus der Tasche holen und nachher mehrere Minuten benötigen, um ihre Konzentration wiederzufinden. Wobei mir die 100 Mal ein gutes Stück zu tief gegriffen scheinen und «Konzentration wiederfinden» wie ein schlechter Witz – ich habe meine vor Jahren endgültig verloren. Die Aussicht darauf, einen Monat lang von diesem Joch befreit zu sein, erscheint mir daher höchst verheissungsvoll.

Doch nachdem ich die SIM-Karte aus meinem Huawei entfernt habe, schaffe ich es nicht, sie das MP01 einzusetzen. Bloss telefonieren und SMS schreiben? Kein WhatsApp? Kein Instagram? Kein Schach? Und wie soll ich herausfinden, wann der Bus fährt? Heftige Isolations- und Amputationsängste türmen sich in mir auf und lähmen meine Finger, die den kleinen Chip halten, der daraufhin allen Ernstes zurück in mein Smartphone wandert. Ich bin offensichtlich dermassen süchtig, dass ich es noch nicht einmal schaffe, den Entzug überhaupt zu beginnen. 

Tag 8

Eine geschlagene Woche lang blieb das MP01 so liegen: bereit und willig, mir die immer wieder herbeigesehnte Unabhängigkeit von meinem Smartphone zu verschaffen. Aber jedesmal, wenn ich den Wechsel vollziehen wollte, fiel mir irgendein Grund ein, warum dieser Moment ungünstig sei, und verschob die Sache auf später. So muss es Menschen gehen, die sich von ihrem Partner trennen wollen, aber in ihrer unglücklichen Beziehung immer noch Halt und Geborgenheit finden. 

Heute aber ist es soweit, nicht zuletzt, weil ich mich selbst nicht mehr ernstnehmen kann und es mich befremdet, dass ein Gerät eine solche Macht über mich ausübt. Also habe ich dem Huawei die SIM-Karte entrissen, diese dem MP01 eingesetzt und bin mit einem Telefon aus dem Haus gegangen, das genau gleich viel kann wie mein erstes Nokia von 1995. Mit diesem war ich mir vorgekommen wie ein Geheimagent – heute fühle ich mich mit dem gleichen dürftigen Funktionsumfang wie ein Tattergreis, dem die Familie ein Seniorenhandy aufgezwungen hat. 

Nach kurzer Zeit machen sich erste Entzugsbeschwerden bemerkbar: Ich nehme das MP01 immer wieder in die Hand und betrachte sein Display, so wie ich es mit meinem Smartphone ständig gemacht habe. Doch da steht nur die Uhrzeit. SMS bekomme ich auch keines, denn mittlerweile kommuniziere ich mit praktisch all meinen privaten und geschäftlichen Kontakten über WhatsApp, wie mir nun bewusst wird. Aber das MP01 kann kein WhatsApp. Das wird zu einem Problem werden. Oder zu einer guten Entschuldigung, dieses Experiment bald wieder abzubrechen.

Als ich wieder zuhause bin, hole ich als erstes mein Smartphone wieder aus dem Schrank. Bloss um kurz meine WhatsApp-Nachrichten zu prüfen, wie ich mir einrede. 

Tag 9

Ich lese den Zettel, der dem MP01 beigelegen hat. Darauf steht, dass dieses keineswegs beabsichtige, das Smartphone zu ersetzen, sondern vielmehr als Gefährte bereitzustehen, wenn man sich eine Auszeit nehmen wolle. Es wird ein Szenario empfohlen, das mich sofort überzeugt und das ich heute ausprobiere: Das Smartphone bleibt eingeschaltet zuhause und empfängt per WLAN weiterhin WhatsApp-Nachrichten, unterwegs bin ich mit dem MP01.

Tatsächlich kann ich in dem Café, das ich zum Schreiben aufgesucht habe, erheblich flotter arbeiten im Wissen darum, dass sich der ständige Griff in die Tasche einfach nicht lohnt, weswegen er dann auch bald mal unterbleibt. Wenn jemand anruft, höre ich es, wenn jemand ein SMS schreibt, auch, und solange kein Klang zu vernehmen ist, gibt es auch nichts zu tun, und das ist sehr angenehm, ja geradezu befreiend. Komme ich an etwas vorbei, das mich amüsiert, bewegt oder empört, mache ich kein Foto und verschicke es, sondern lasse es nur auf mich selbst wirken. Habe ich einen Gedanken, den ich bisher sofort geteilt hätte, erfreue ich mich allein daran. So muss es früher gewesen sein, als man seine Freunde nur per Brief oder Festnetz erreichen konnte. Es muss angenehm still gewesen sein, und was gesagt wurde, musste mehr Gewicht gehabt haben. Das MP01 hat ein wenig die Aura jener Zeit. Dafür liebe ich es.

Tag 12

Am Wochenende hatte ich mein Smartphone wieder in vollem Betrieb: Ich spielte Schach gegen Menschen aus Holland, Indien und Schweden, bekam heitere Memes per WhatsApp und schickte meiner Freundin ausführliche Liebesschwüre, was mit dem Huawei-Touchscreen, auf dem man ohne abzusetzen mit dem Finger über die Buchstaben fahren kann, wesentlich einfacher ist als mit dem MP01, auf dem ich für ein «o» dreimal die «6» drücken muss. Und ich machte Fotos. Ich mache gern Fotos, von allen möglichen Personen, Dingen und Momenten. Dass man mit dem Smartphone auch stets eine Kamera in der Tasche hat, ist wohl das überzeugendste Argument dafür. Dass man es jeden Tag dutzende von Male aus ebendieser Tasche angelt, um blöd draufzuglotzen, obwohl sich nichts getan hat, ist ein starkes Gegenargument – aber es unterwiegt. Die SIM-Karte bleibt nun definitiv im Huawei. Das Experiment, vier Wochen lang auf das Smartphone zu verzichten, ist nach zwei halben Tagen kläglich gescheitert. 

Tag 20

Ich habe andere Möglichkeiten gefunden, mich zu zügeln. Es gibt Apps, die das Smartphone oder eine Anzahl bestimmter anderer Apps für frei definierbare Zeiträume vom Internet trennen. Das mache ich bereits mit meinem Laptop so: von 8 bis 11 und von 12 bis 16 Uhr ist Ruhe, und das gilt nun auch für mein Smartphone. Und manchmal lasse ich es auch einfach absichtlich zuhause liegen. Das fühlt sich erst an, als würde man ohne Hosen auf die Strasse treten, und nach ein paar Tagen immerhin nur noch so, als hätte man das Portemonnaie vergessen. Aber es geht. 

Dass das alles so schwierig ist für mich, ist mir peinlich, und ich finde es auch ein bisschen zum Lachen. Aber die Selbstverachtungsgefühle sind verschwunden. Ich bin mir nicht mehr böse dafür, dass ich nicht ohne Smartphone leben kann. Warum sollte ich auch? Mir ist exakt eine Person bekannt, die dazu fähig ist. Aber der ist auch Fotograf und hat immer eine Kamera dabei.

Thomas Meyer
Zurich, Switzerland
 

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