Eine Geschichte über die Befreiung meines Kopfes

Im Januar 2016 klebte ich spätnachts mal wieder am Bildschirm meines iPhones. Ich war von einer blauen Smartphone-Lichtwolke umgeben, gehalten in einer Blase, von der ich nicht einmal wusste, dass ich drin war. Dieses selbstgemachte Gefängnis war eigentlich ein ganz gemütlicher Ort. Tag und Nacht konnte ich mich in den Instagram- und Twitter-Feeds der Leute verstecken. Ich konnte mich meinen Familienpflichten entziehen und meinen Daumen durch die vielen Kilometer E-Mails streichen lassen, die meine Aufmerksamkeit erforderten. So dachte ich zumindest. Klar, ich konnte immer behaupten, dass eine dringende „Arbeit“ mein sofortiges Handeln erforderte. Wer konnte dagegen schon etwas sagen? Meine Frau mit Sicherheit nicht. Nicht meine Kinder, die ganz genau wussten, dass ihr Vater ein angeblich vielbeschäftigter Mann mit einem fordernden Job in einer erfolgreichen Firma war. Aber da lag ich falsch. Und ich war so dumm, das zu ignorieren.

Am Morgen danach wurde mir klar, dass mein Verhalten – oder besser gesagt, meine Sucht – schädlich und beunruhigend war. Ich saß an unserem Küchentisch, sah mich selbst dort und gleichzeitig nicht dort: In Wahrheit schwebte ich in einem Paralleluniversum. Ich war durch ein Wurmloch gegangen, hatte Zeit und Raum verlassen, wie sie meine Familie definierte, die ein Frühstück brauchte und eine Uhr, die uns sagte, dass es Zeit war, zur Schule zu fahren. Als ich mich dort sitzen sah und gleichzeitig woanders war, gefiel mir nicht, was ich erschaffen hatte. Also trieb ich zurück zum Eingang des Wurmlochs und schloss es. Für immer.

Ein paar Tage später öffnete ich einen Karton und drehte mein neues Punkt. Mobiltelefon ein paar Mal in der Hand herum, um mich an dieses ungewöhnliche schwarze Gerät zu gewöhnen, das für Nachrichten und Anrufe gedacht war. Insbesondere war ich neugierig, ob ich in den kalten Entzug der nächsten Tage ohne 4G, WLAN, Hashtags und soziale Medien überleben konnte, ohne ständig online zu sein. War Leben so überhaupt möglich?

Das war es, wie es sich herausstellte.

Zu meiner ersten Woche will ich keine Lügen erzählen. Es war ein Alptraum. Ich war nervös, besorgt, ungeduldig und irritiert von allem und jedem. Weil. Ich. Mein. Smartphone. Nicht. Mehr. Bei. Mir. Hatte. Nachdem das ausgeschwitzt war, bemerkte ich die Rückkehr von etwas, dessen Existenz ich völlig vergessen hatte. Mein Denken begann seine Gewohnheiten zu ändern. Mir kamen Gedanken, die ich seit Jahren nicht mehr gedacht hatte. Meist dummes Zeugs. Wilde Beobachtungen. Unbegründete Interpretationen. Sachen, die nicht wirklich waren. Oder überhaupt nicht mal da. Rückblickend auf die ersten Wochen im Winter 2016 sehe ich nun deutlich, was ich erlebt habe. Mein Gehirn war nach einer langen Zeit der Sedierung erwacht. Ich hatte mein Denken befreit und ließ es wieder frei schweifen.

Wenn man ein kreativer Schriftsteller ist wie ich, braucht man diese Momente der Langeweile. Sie sind wie ein Schatz. Man braucht Zeit, um einmal einfach gar nichts zu tun. Denn genau da fängt man an, über Dinge nachzudenken, die auf den ersten Blick unwichtig erscheinen, sich dann aber für das Denken und Schreiben als wesentlich erweisen. Bei jedem kreativen Prozess spielen Unsicherheit und undefinierte Ziele mit. Man kennt seinen Ausgangspunkt, weiß aber nicht, wo man landen wird. Auf diesem Weg muss man sich einfach auf seinen Kopf und seine Fähigkeit verlassen, dass da schon etwas kommen wird. Irgendwann.

Als meine Hände noch mit dem iPhone verschweißt waren, war ich nicht in der Lage, meine Gedanken schweifen zu lassen. All meine Gedanken und meine gesamte Aufmerksamkeit waren bei dieser kleinen Kiste aus Glas und Aluminium. Wenn ich aus dieser Perspektive meinen Kopf betrachte, ist das Punkt. MP 01 kein simples Telefon oder Dumbphone. Es ist ein unglaubliches Werkzeug. Anstatt meine Gedanken in Anspruch zu nehmen, gibt es ihnen Raum zum Atmen und zum Wandern, Raum für die Entstehung origineller Gedanken. Deshalb würde ich es überhaupt nicht als simpel bezeichnen. Es ist wie ein Gitarrensolo von George Harrison: Es weiß genau, wann der Moment ist, aufzutreten und zu zeigen, was es kann – und ebenso, wann es Zeit ist, wieder still zu werden und in den Hintergrund zu treten.

Jorrit Hermans
Zolder, Belgien
 

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