Spät nachts. Von Alain De Botton
Georg Friedrich Kersting, Man Reading at Lamplight, 1814

Spät nachts. Von Alain De Botton

Spät nachts

von Alain De Botton

Es ist spät in der Nacht, aber der Schlaf will nicht kommen. Du drehst dich um. Vielleicht wird eine andere Position den Geist beruhigen. Oder vielleicht war die andere Seite doch besser. Panik setzt ein. Nicht schlafen fühlt sich wie eine Katastrophe an. Aus verständlichen Gründen urteilt unsere Kultur extrem negativ über Schlaflosigkeit. Es ist ein Fluch, der durch Kunst oder Wissenschaft überwunden werden soll, durch Schlaftabletten, Kamillentee oder Schäfchenzählen. Aber angesichts der Zeit, die wir im Reich der Schlaflosigkeit verbringen müssen, mag es sich vielleicht auch lohnen, die Landschaft zu erkunden und zu kartieren – um sich ein wenig heimischer bei der Vorstellung zu fühlen, nicht schlafen zu können und um unsere schlaflosen Stunden als zwar lästigen, aber doch wesentlichen Teil des Menschseins zu akzeptieren.

Unser Wachsein kann als raffinierte Rache all der vielen tiefen, großartigen, bedeutsamen und informationsreichen Gedanken interpretiert werden, die wir während des Tages nicht angemessen beachtet haben. Teilweise können wir nicht schlafen, weil noch so viel unfertiges Denken übrig ist.

Der dänische Maler Kersting deutet auf die Vorteile des schlaflosen Zustandes hin. Wir können vermuten, dass es für den Mann, der in seinem Arbeitszimmer liest, sehr spät ist; gewöhnliche Menschen sind längst zu Bett gegangen, aber er ist aufgestanden, um ein Buch zu beenden, zu denken, mit einer längst vergessenen Person zu sprechen: mit sich selbst. Spät nachts haben große Dinge endlich eine Chance, im Kopf zu geschehen. Während des Tages erfüllen wir unsere Pflicht anderen gegenüber. Nachts kümmern wir uns um eine größere Aufgabe: uns selbst. Die Nacht ist ein Korrektiv zu den Anforderungen der Gesellschaft. Ich mag – tagsüber – Zahnarzt oder Mathematiklehrer, Elternteil oder Politiker sein, aber die Nacht erinnert mich daran, dass ich auch ein namenloses, grenzenloses Bewusstsein bin, eine sich weit ausdehnende, ungebundene Figur, mit unendlichen Möglichkeiten und seltenen, beunruhigenden, ambivalenten, eigentümlichen, visionären Einsichten. Die Gedanken der Nacht würden für meine Mutter, meinen Freund, meinen Chef, mein Kind sonderbar klingen. Diese Menschen brauchen uns auf eine bestimmte Art und Weise. Sie können, oft aus guten Gründen, nicht all unsere Möglichkeiten tolerieren. Wir wollen sie nicht im Stich lassen. Sie haben das Recht, auf unsere Vorhersagbarkeit zu bauen. Aber ihre Erwartungen können wichtige Aspekte davon abwürgen, wer wir sind. In der Nacht, bei geöffnetem Fenster und mit einem klaren Himmel über uns, geht es nur um uns und das Universum – und für eine Zeitlang können wir etwas von seiner Grenzenlosigkeit annehmen.

Von Natur aus wollen wir normal sein. Doch dank der Schlaflosigkeit erhalten wir eine Chance, unserem verrrückteren, wahrhaftigeren Ich zu begegnen. Wir können unsere eigene scheinbare Andersartigkeit kennenlernen. Das Tages-Selbst ist ein irreführendes Bild von dem, was jeder wirklich ist. Schlaflosigkeit ist ein Geschenk - und eine latente Erziehung.

Punkts Mitarbeiter-Philosoph antwortet:

Ja, es ist wichtig, nicht in Panik zu geraten, nicht zu erstarren, wenn man auf Pans erschreckende Waldgeräusche – oft nachts besonders beängstigend – oder deren moderne Äquivalente aus dem verworrenen Wald des heutigen Lebens trifft. Nicht schlafen können, aber wollen und müssen? Wenn Drehen und Herumwerfen die einzigen Optionen sind, ist es oft am besten, es einfach hinzunehmen. Akzeptieren Sie, dass der Schlaf jetzt gerade nicht kommt und verlassen Sie das Schlafzimmer.

Wenn Sie etwas Großes denken wollen, tun Sie das. 

Aber wenn Sie dies nicht wollen, weil Sie in ein paar Stunden einen 8-Stunden Tag als Dozent an einer Universität beginnen oder weil Sie einen Bus fahren, ist es eine nützliche Taktik, etwas Praktisches zu tun. Es bietet etwas Anderes zum Nachdenken, etwas in sich abgeschlossenes, das sofortige Lösungen ermöglicht. Eine halbe Stunde später hat man etwas Nützliches vollbracht, ist auf eine tiefere Art müde und hat eine gute Chance, dass man, wenn man wieder ins Bett geht, dieses Mal bekommt, was man will. Also ja, anstatt in Panik zu verfallen, anstatt des Versuches zu schlafen, schlagen Sie die Schlaflosigkeit bei ihrem eigenen Spiel: Versuchen Sie wach und aktiv zu bleiben, bis die Schlaflosigkeit selbst ermüdet ist. Dann gehen Sie zurück ins Bett und fühlen Sie sich gut, weil Sie etwas erledigt haben. Es ist vorbei, Sie können jetzt herunterfahren.

Aber bleibt wichtig, sich daran zu erinnern, dass Schlaflosigkeit, definiert als die „Unfähigkeit zu schlafen“, – wie jede Unfähigkeit – ein Verlust von Freiheit ist. Und tatsächlich birgt jeder Freiheitsverlust, bis hin zur körperlichen Inhaftierung das Potenzial persönlichen Wachstums. Denn was uns nicht umbringt, macht uns stärker. Terry Waites fünf Jahre als Geisel im Nahen Osten führten bei ihm zu einem ausgezeichneten Buch. Aber es ist wahrscheinlich doch besser, wenn wir niemals in die Lage kommen, etwas in dieser Art zu schreiben. Ähnlich gilt es, Schlaflosigkeit per definitionem zu vermeiden. Man kann sie respektieren als Warnung und als Feind, vielleicht sogar für einen Moment umarmen, um ihre Niederlage herbeizuführen. Aber wo möglich sollte sie vermieden werden.

Georg Friedrich Kersting, Man Reading at Lamplight, 1814

Wenn wir Kerstings Gemälde betrachten, sehen wir, dass seine Hauptperson keine spezifischen Anzeichen von Schlaflosigkeit zeigt. Sie scheint nicht im Morgenmantel zu sein und sie zeigt nicht die Zeichen gequälter Einschränkung, die typisch für Schlaflosigkeit ist. Der Mann im Bild ist einfach lange aufgeblieben und tut etwas. Und obwohl seine Umgebung spartanisch ist, gibt es Anzeichen für einen gewissen Reichtum. Im Allgemeinen muss man hierfür hart arbeiten –  hier vielleicht als Reeder oder als Anwalt. Sollte er an Schlaflosigkeit leiden – anstatt sich entschieden zu haben, einfach länger aufzubleiben – und sich dies zu einer chronischen Krankheit entwickelt hat, wird er innerhalb der Gesellschaft weniger gut funktionieren. Unter anderem werden seine Verdienstmöglichkeiten geringer und er wird weniger Geld haben, um jemanden zu bezahlen, der darauf reagiert, wenn er den Klingelzug im Bild hinter sich benutzt.

Schlaflosigkeit ist nicht kulturell stigmatisiert, es ist ein Leiden, das außerhalb der Kultur vorkommt und nur für sich selbst steht. Auch wenn seine Überwindung sich als nützlich für die eigene persönliche Entwicklung erweisen kann. Es lohnt sich auch, darauf hinzuweisen, dass unsere Kultur in vielerlei Hinsicht tatsächlich Schlaflosigkeit fördert und von ihr profitiert.

Nachts, bei offenem Fenster und einem klaren Himmel, gibt es nur uns und das Universum – und für eine kurze Zeit können wir ein wenig Teil seiner Grenzenlosigkeit werden.

Daran ist viel Wahres. Und die Anerkennung dessen birgt vielleicht eine Chance im Kampf gegen den Fluch der Schlaflosigkeit. Freiwillig länger aufbleiben oder gar die ganze Nacht und dabei „die entscheidende Begegnung mit unserem verrückteren, wahreren Selbst“ (und vielleicht noch wichtiger, den heutigen neo-liberalen Individualismus zu transzendieren und dem seltsameren, wahreren Selbst zu begegnen, das von allen erlebt wird, mit nichts und allem dazwischen) zu erleben, ist auch ein menschliches Bedürfnis. Daher Mitternachtsmesse, daher die nächtelange Geißelbuße von Heinrich II. an der Grabstätte von Thomas Beckett. Daher Northern-Soul-All-Nighters. Und wenn wir erst einmal in die Dunkelheit eingetreten sind und aus ihr wieder hervorgegangen sind, und nachdem wir dieses wirkliche menschliche Bedürfnis, ob mit anderen oder allein (letzteres vorzugsweise mit Rücksicht auf unsere Mitmenschen), durchlebt haben, werden wir weniger anfällig für die rachsüchtige Stimme der unerfüllten Bedürfnisse der Schlaflosigkeit sein. Ja, vielleicht ist Schlaflosigkeit ein Geschenk, welches uns sagt, dass wir öfter die ganze Nacht aufbleiben sollten. Aber es ist im Allgemeinen besser, Heinrich II. zum Trotz, dies im Einklang mit unseren anderen Verpflichtungen zu tun.

Vielleicht hat der Mensch in Kerstings Bild tatsächlich Schafstörungen und das Richtige getan, indem er nicht nur sein Schlafzimmer verlassen hat, sondern auch sein Nachthemd ausgezogen hat. Er tut jetzt etwas, das nichts mit Schlaf zu tun hat. Hoffentlich kann er bald wieder in sein Bett zurückkehren und diesmal unbelastet seinen Schlaf finden. Aber in einem Punkt können wir sicher sein: Er schaut nicht auf Facebook.​

Illustration by Jerome Masi

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